Predigt beim Requiem für Domdekan i.R. Prälat Konstantin Kohler

Ein Priester des „Effata“: Öffne dich!

„Das Domkapitel, etliche Priester, zahlreiche Ordensleute sowie hunderte Gläubige nahmen in Kirchdorf Abschied von Prälat Konstantin Kohler. Der ehemalige Generalvikar und Domdekan, der am 27. April überraschend im Alter von 83 Jahren verstorben war, wurde unter großer Anteilnahme neben der Kirche beigesetzt." Im folgenden dokumentieren wir die Predigt von Bischof Bertram Meier beim Pontifikalrequiem:

Effata: Am 6. Dezember 1939, dem Fest des hl. Nikolaus, wurde in Mindelheim dem Baby Konstantin dieses Wort zum ersten Mal zugesprochen. Bei der Taufe sagte der Priester: „Der Herr möge Konstantin helfen, seine Botschaft zu hören und zu bekennen. (…) Der Herr öffne dir Ohren und Mund, dass du sein Wort vernimmst und den Glauben bekennst zum Heil der Menschen und zum Lobe Gottes.“ Im Effata-Ritus ist schon vorgebildet, wie Prälat Kohler sein priesterliches Leben und Wirken verstehen sollte: als Diener des Wortes und treuer Verwalter göttlicher Geheimnisse. Die Feier der Eucharistie war ihm ein Herzenswunsch – gerade in den letzten Jahren, die er hier in Kirchdorf verbrachte. Doch auch schon vorher in den verschiedenen Tätigkeiten, die ihm zugetraut wurden, war die hl. Messe eine Art Basso continuo. So ist er als Generalvikar fast täglich vom Domviertel zu Fuß ins Mutterhaus Maria Stern gegangen, um mit den Franziskanerinnen die Frühmesse zu feiern. Wenn er auch nicht immer auf die Minute pünktlich war, er kam treu. Noch am Abend vor seinem Tod feierte er hier in seiner Heimatkirche die Eucharistie.

Effata: Öffne dich! Taub und stumm: das trennt Menschen heute voneinander, wie es damals den Mann im Evangelium von seinen Mitmenschen isolierte. Er kann nichts hören außer seinen eigenen Gedanken. Er kann mit keinem reden außer mit sich selbst. Von anderen getrennt, bleibt ihm nichts, als um sich selbst zu kreisen. Woran er leidet, ist Beziehungslosigkeit. Ohne jeden Kontakt, unfähig für Beziehungen – taub und stumm: Das kann doch nicht unsere Bestimmung als Menschen sein. Man hat gelernt, taubstummen Menschen das Leben ein wenig zu erleichtern. Zurzeit Jesu allerdings sah das noch anders aus. Man stand Menschen mit Behinderung ziemlich hilflos gegenüber. Und doch gab es Leute, die nicht nur Linderung anboten, sondern Heilung.

In der Regel handelte es sich um Wanderprediger, die durchs Land zogen. Sie nahmen den Kranken beiseite, taten sehr geheimnisvoll, sprachen rätselhafte Worte, berührten mit ihrem Finger die kranken Stellen, manchmal benutzten sie auch den eigenen Speichel, dem man eine heilende und apotropäische Wirkung zuschrieb. Und irgendwie müssen sie auch Erfolg gehabt haben: Sonst gäbe es nicht so viele Berichte von ihren Taten. 

War Jesus damals auch so ein Wunderheiler? Alles sieht zunächst danach aus, besonders dann, wenn wir eine wörtlichere Übersetzung unseres Evangeliums heranziehen: „Und sie brachten einen, der taub war und kaum reden konnte und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn von der Volksmenge weg beiseite, drückte ihm seine Finger in die Ohren und spuckte, um mit seinem Speichel seine Zunge zu berühren. Und er blickte zum Himmel auf, seufzte und sprach zu ihm: Effata! Das heißt: Sei geöffnet!“ (Joachim Gnilka).

Markus geht hier sehr weit und rückt Jesus in die Ecke der gängigen Wunderheiler seiner Zeit. Doch zugleich legt er den Kern dessen frei, wer Jesus wirklich war. Lassen wir uns in die Tiefe des Geschehens mitnehmen! Wenn wir der Geschichte auf den Grund gehen, erschließen sich auch Biographie und Charakter von Konstantin Kohler. 

Als erstes nimmt Jesus den Taubstummen beiseite, weg von der lauten und gaffenden Menge. Er gewährt dem Menschen mit Behinderung einen Schutzraum, in dem es nur um ihn selber geht und alle fordernden Ansprüche außen vor bleiben. Wir reden heute gern von „Selbstfindung“. Die Franzosen haben dafür das Wort „défoulement“, was so viel heißt wie „weg von der Masse sein“. Ganz zu uns selber finden wir nicht im Gewirr der lauten Stimmen, sondern in der Stille und Einsamkeit. In der Stille lernen wir das Hören. Und manchmal brauchen wir jemanden, der uns behutsam, aber bestimmt in diesen schützenden Raum des Hörens führt. 

Konstantin Kohler war ein Hörender. Mag er auch auf manche eher scheu oder gar distanziert gewirkt haben, sein ehrliches Interesse galt den konkreten Menschen, für die er stets ein Ohr hatte. Er liebte weniger die große Bühne als vielmehr die kleine Runde, um sich auszutauschen, Dinge abzuwägen und geistliche Entscheidungen verantwortet vorzubereiten. Nicht umsonst hat er neben Philosophie und Theologie auch einige Jahre Psychologie studiert. 

Der zweite Schritt ist das Berühren der Zunge: eine intime Geste. Jesus fordert den Stummen nicht auf, seine Zunge auszustrecken und zu bewegen; er schafft zuvor einen Raum der Geborgenheit, damit die Zunge sich lösen kann. Es muss zuerst eine Atmosphäre entstehen, dass der andere sich in seinen Worten öffnen und mitteilen kann. Wir kennen alle Situationen des Gegenteils, wo uns das Wort im Hals stecken bleibt und wir nichts herausbringen: eine Atmosphäre der Angst, der Enge, der Kälte. Sie schneidet uns die Kehle zu. Seelsorge heißt dann, eine Atmosphäre erzeugen helfen, in der die Zungen sich lösen, in der Menschen Mut fassen, sich selbst auszusprechen.

Wer es mit Konstantin Kohler zu tun bekam, dem eröffneten sich Freiräume. Die Leute konnten sich bei ihm aussprechen. In der Seelsorge als Pfarrer und Regionaldekan, in seinem Dienst bei Regens-Wagner gemeinsam sowohl mit den Menschen mit Behinderung als auch mit den Angestellten und nicht zuletzt mit den Dillinger Franziskanerinnen war der Mensch und Priester in seinem Element. Manche hätten sich vielleicht hin und wieder ein Machtwort von ihm gewünscht, als er das Amt des Generalvikars ausübte, doch Durchgreifen war nicht seine Sache. Auch kirchenpolitische Winkelzüge liebte er nicht. Intrigen lagen ihm fern. Er hatte auch die Größe, wenn es musste ins zweite Glied zurückzutreten. Jedes noch so hohe Amt sah er als Dienst. Seine Maxime war: Hinter jedem Vorgang im Bischöflichen Ordinariat stecken konkrete Menschen. Ihnen muss ich gerecht zu werden versuchen. Effata: Öffne dich!  

Dann blickt Jesus zum Himmel auf. Er möchte darauf hinweisen, was der tiefste Sinn allen Hörens und Sprechens ist. Das Geheimnis des Wortes liegt darin, Gott zu kommunizieren, etwas vom Himmel anklingen zu lassen. Worte sind nicht nur Information; sie finden ihren letzten Grund im Wort Gottes selbst, sie haben teil am Sprechen Gottes zu uns. So weisen unsere menschlichen Worte immer über uns selbst hinaus, auf das Geheimnis Gottes. Ein hoher Anspruch! Sind unsere Worte tatsächlich ein Echo des Wortes Gottes? 

Je länger Konstantin Kohler Priester war, umso wichtiger wurde ihm der Dienst am Wort. Gottes Wort war ihm heilig. Er war überzeugt: Mit dem Wort Gottes darf man weder spielen noch zündeln. Als ehemaliger Domprediger habe ich mich immer sehr gefreut, wenn er mich fragte, welche Predigtreihen ich derzeit plane und wie intensiv ich die Ansprachen vorbereite. Er war ein Mitbruder, der an der Arbeit und am Wohl des anderen Interesse zeigte. Das war wohltuend. 

Der vierte Schritt auf dem Heilungsweg ist das Seufzen. Jesus seufzt über dem Taubstummen. Hinter diesem Vermerk steckt eine tiefe Botschaft: Seufzen ist mehr als ein menschliches Jammern und Klagen, es ist ein Zeichen für die Gegenwart des Heiligen Geistes: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Auch wir seufzen in unseren Herzen, (…) doch der Geist selber tritt für uns ein mit Seufzen“ (vgl. Röm 8, 22-26). Wenn Jesus seufzt, dann öffnet er sein Herz für den andern, er lässt ihn bei sich eintreten, er schafft ihm einen geistlichen Raum, einen Raum, in dem der Heilige Geist wirken kann. Indem Jesus dem Taubstummen durch sein Seufzen Zutritt gewährt zu seinem Herzen, kann Gottes Kraft wirken.

Ich bin überzeugt, dass auch Konstantin Kohler mitunter geseufzt hat angesichts der Herausforderungen der anspruchsvollen Aufgaben, die ihm gestellt waren. Auch die aktuellen Entwicklungen der Kirche verfolgte er mit Sorge. Mögen seine Seufzer nun aufgehoben sein, hinaufgehoben in eine andere Sphäre, wo er mit der Perspektive der Ewigkeit auch über manches lächeln kann.

Erst am Ende spricht Jesus das Wort „Effata“. Es stammt wohl aus dem Aramäischen, aber ganz klar ist seine Herkunft nicht. Im hellenistischen Kontext klingt es wie ein unverständliches Zauberwort, ähnlich „Abrakadabra“. Indem es aber übersetzt wird, verliert es den Charakter einer Zauberformel. „Öffne dich! Sei offen!“ Das Zauberwort zeigt sich als Appell, gerichtet nicht an irgendwelche Geister und Mächte, auch nicht bloß an Ohren und Zunge, sondern an den ganzen Menschen. Anklänge an den Schöpfungsbericht werden wach, wenn die Menschenmenge in Jubel und Begeisterung ausbricht: „Er hat alles gut gemacht. Er macht, dass die Tauben hören und die Stummen reden“ (Mk 7,37).

Effata! Prälat Kohler gelang es, Menschen zum Hören zu bringen und zugleich sprachfähig zu machen. Wenn andere durchregieren wollten, dann riet er zur Geduld, bis die Dinge sich klären. Er war ein Gentleman. Es brauchte Zeit, um mit ihm warm zu werden: Man musste sich im Gespräch behutsam herantasten, um dann in ihm einen echten Mitbruder, ja einen verlässlichen Freund zu finden. Er war edel und fein. Wer Konstantin Kohler vertraute, wurde nicht enttäuscht. Er stand zu seinem Wort. Immer war auf ihn Verlass. Diese sachliche Selbstverständlichkeit hat vielen gutgetan.

Es war am See Gennesaret, als „Effata“ zum ersten Mal von Jesus gesprochen wurde. Bis heute findet es sein Echo bei uns in der Kirche. Das Wirken von Prälat Kohler zeigt: Er war ein Mann des „Effata“. Er hat den ihm anvertrauten Menschen Ohren und Mund geöffnet – und manchen auch das Herz. Er hat das „Effata“ zugesprochen, nicht nur Kindern bei der Taufe, sondern auch den ihm anvertrauten Menschen, denen er sich öffnete. Nun möge der Herr dem Verstorbenen „Effata“ zurufen! Konstantin Kohler steht jetzt an der Tür des Himmels. Er selbst kann diese Tür aus eigener Kraft nicht öffnen, auch kein „Simsalabim“ wird sie ihm aufmachen. Es kann nur die Stimme des Herrn sein, die an der Himmelspforte zu Konstantin sagt: „Effata!“ Öffne dich! Konstantin, komm herein; nimm teil an der Freude deines Herrn! (vgl. Mt 25,22)

11.05.2023 - Bistum Augsburg , Predigt , Requiem